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"Aber ist Dirigieren nicht ein Männerberuf?"

Was mein Friseurbesuch mit Dirigieren zu tun hat? Das erfährst du heute 😉


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It's Storytime...Diese Woche habe ich einen neuen Friseur in Bonn ausprobiert – gar kein leichtes Unterfangen. Alle Lockenköpfe wissen, wie selten Friseure sind, die Locken verstehen und gut schneiden. Spoiler: Ich werde künftig wieder zu meinem bewehrten Lockenexperten nach Köln fahren!

Beim Smalltalk fragte mich die Friseurin in Bonn, was ich denn beruflich mache. Und ich habe wie üblich meinen "Dreisatz" geantwortet: 


"Ich bin Dirigentin, Sängerin und Coach". 

"Ach, das ist aber was ganz Besonderes! Aber - ist Dirigent nicht eigentlich ein Männerberuf?!"Uff.... DAS hatte ich bislang noch nicht gehört, aber gut...

Sie sprach weiter:"Also ich sehe bisher nur männliche Dirigenten. Woran liegt das, dass es kaum Frauen gibt, die diesen Job machen?"Wow! Gute Frage!! Ich habe relativ kurz und knapp geantwortet, aber ihre Frage ging mir den ganzen Tag, die ganze Woche nicht aus dem Kopf. -Woran liegt es, dass so wenige Frauen dirigieren? Ich spreche oft darüber, dass ich mich ganz allein auf weiter Flur fühle, dass ich oft alleine unter den Kollegen stehe, und Kolleginnen vermisse. Und traue mich trotzdem selten darüber in meiner Online-Sichtbarkeit zu sprechen (auch wenn ich ständig darüber nachdenke...)

Aber auf diese Weise in einem Smalltalk Gespräch beim Friseur damit konfrontiert zu werden, hat meine Gehirnzellen doch nochmal anders aktiviert. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sind hier einige Gedanken und Beobachtungen von mir zu dem Thema: 



Traditionelle Rollenverteilung 


Dirigieren galt über Jahrhunderte als „männliche“ Tätigkeit, verbunden mit Macht, Autorität und öffentlicher Sichtbarkeit. 

Frauen wurde eher eine Rolle als Musikerinnen (v. a. Sängerinnen oder Pianistinnen) zugeschrieben, nicht als künstlerische Leiterinnen. Allerdings auch erst sehr spät. Gerade in Orchestern gab es erst sehr spät Frauen innerhalb des Ensembles, die Berliner Philharmoniker haben erst im Jahr 2023 eine Frau als ihre 1. KonzertmeisterIN ausgewählt. 

Richtig gelesen! Das war vor 2 Jahren!! 


Je höher das Niveau, desto weniger Frauen.


In meiner Erfahrung werden Kinder- und Jugendchöre häufig von Frauen geleitet. In der Kirchenmusik werden es schon weniger Frauen, vor allem je höher die Stelle ist (Stichwort Domkantoren). 


In Profi-Orchestern oder -Chören wird die Luft dünner. Ich selbst habe jahrelang in internationalen Spitzenensembles gesungen – kein Projekt war unter der Leitung einer Frau. 

Auch an der Musikhochschule gab es (zu meiner Zeit) keine Professorin für Chorleitung, und dementsprechend auch keine Chöre im Hochschulkontext mit weiblicher Führung. Diese dünner werdende Luft an der Spitze habe ich selbst vor einigen Jahren erfahren: an deutschen Hochschulen und Universitäten gibt es nur sehr wenige Frauen, die große Ensembles dirigieren. Ich bin eine der wenigen in Deutschland, die mit dem Jazzchor der Uni Köln ein solches Ensemble unter ihrer Leitung hat. 



Wenige weibliche Vorbilder


Gerade wenn es um die Studiengangs-Wahl geht, braucht man Vorbilder. Wenn man als Kind oder Jugendliche nie eine Frau am Dirigierpult, vor einem Orchester oder Chor gesehen hat, wie sollte man dann auf die Idee kommen, Dirigieren zu studieren? Frauen bewerben sich seltener auf Führungspositionen 


Sheryl Sandberg beschreibt in Lean In einen populären Mythos: Frauen bewerben sich erst, wenn sie 100 % der Anforderungen erfüllen, Männer schon bei 60 %. Studien zeigen: der Unterschied ist kleiner, aber Frauen neigen in manchen Kontexten dazu, sich weniger sicher zu fühlen.


Wie dieses Verhältnis wohl beim Beruf des Dirigenten aussieht?Rückblick: 2019 wurden von 130 Orchestern in Deutschland lediglich 3 von einer Frau geleitet. 



Zu viel Ambition ist unsympatisch 


Ich bin großer Reese Witherspoon Fan. Warum das so ist, kann ich gerne in einem der nächsten Newsletter erzählen. Sie spricht immer wieder von Ambition. Im Bezug auf Frauen wird es in der Filmszene regelrecht als Schimpfwort benutzt. 

Und auch ich kann aus Erfahrung sagen, dass das Dirigentinnen-Dasein nicht ausschließlich auf Wohlwollen stößt, sondern Kolleg:innen mich mitunter als sehr ambitioniert und zielstrebig (das wiederum positiv ausgelegt) wahrnehmen. 


Frauen, die zu ehrgeizig erscheinen, werden manchmal als unsympathisch wahrgenommen – ein Bias, den Männer seltener erleben.


Ich kann mich daran erinnern, dass ich zu Beginn meiner Dirigentinnen-Laufbahn immer mal wieder die Sorge verspürt habe, als unsympathisch zu gelten, zu viel zu wollen, zu dominant zu sein, zu viel Erfolg zu wollen... 

Vielleicht berichte ich auch davon in Zukunft mehr. 


Diese Sorge war einer der Gründe warum ich mich, auch im Rahmen von Coaching, intensiv mit "Leadership" auseinandergesetzt habe. Eine meiner Lieblingsautorinnen dazu in Brené Brown, falls du neugierig dazu bist. 


Mittlerweile coache ich andere Dirigentinnen auf ihrem Weg, eine meiner Klientinnen hat gerade dieses Jahr einen Job als Dirigentin angenommen. Die Bewerbung und das Probedirigat haben wir gemeinsam innerhalb des Coachings vorbereitet. 💪

Eine ehemalige Klientin schrieb mir diese Woche, dass der Uni-Kammerchor, den sie während des Coachings bei mir vor 2 Jahren gegründet hat, in diesem Jahr stabil singfähig und ausgeglichen besetzt ist. 😍 The Witch WoundDas mag für einige von meinem Circle hier vielleicht komisch klingen, aber es gibt sie, die Hexenwunde. Über Jahrhunderte wurden Frauen, die Wissen hatten, Weisheiten weitergegeben haben, Macht besaßen oder Heilerinnen waren verfolgt, bestraft und verbrannt. Mädchen und Frauen haben über Jahrhunderte gelernt, ihr eigene Stärke und Macht zu verbergen, um sich vor Bestrafung und Verfolgung zu beschützen. 

Das führt dazu, dass viele Frauen Angst haben, sich wirklich und ganz authentisch zu zeigen, gesehen zu werden als die, die sie sind. 

Selbstzweifel und Scham spielen in diesem Zusammenhang eine große Rolle, und können EIN Faktor sein, sich selbst nicht als Dirigentin wahrzunehmen, zu zeigen, sichtbar zu sein mit dem Wissensschatz, den man als Leitungsperson in sich tragen muss. Wenn das für dich zu abgedreht klingt, kannst du's getrost ignorieren. Wenn es aber nur mit einer Person hier räsoniert, bin ich froh, jemandem einen Einblick in diese Gedankenwelt gegeben zu haben. 



Was ich sagen kann: 


Ich empfinde den Stil, mit dem ich meine Ensembles (FUSION, unmuted und den Jazzchor der Uni Köln) aufbaue, leite, und führe als "anders" als das, was ich von männlichen Kollegen oder Vorbildern kenne, die ich während meiner Laufbahn als Sängerin kennengelernt habe. Ich glaube, dass ich die Menschen in einer Gruppe anders sehe, den Klang anders forme, Musik anders gestalte, definitiv sehr viel mehr Wert auf nachhaltige Stimmbildung gebe, an Gestaltung und Ausdruck in Musik völlig anders herangehe, und die Atmosphäre in einer Probe total anders ist. (Disclaimer: Läuft alles immer rund? Sicher nicht! Nur der Vollständigkeit halber: ich erhebe keinen Anspruch auf Perfektion, sondern strebe nach gesunder und nachhaltiger Exzellenz.)

Das mag vielleicht zu einem Teil daran liegen, dass ich eine Frau bin. Ganz sicher liegt es daran, dass ich, als Person Julia, die Leitung habe, Führung und Verantwortung übernehme und ganz aktiv gestalte. 



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